Der Motor dröhnt, das Vorsegel hängt schlaff vorm Mast herunter und es regnet seit heute Morgen, als wir abgelegt haben, um nach Helsinki überzusetzen. Und es gibt überall diese kleinen Fliegen, die sich lieber totquetschen lassen, als aus dem Weg zu fliegen oder am besten ganz abzuhauen. Und das trotz Regen. Gestern Abend sah die geplante Überfahrt von Tallinn noch viel besser aus. Der Wettervorhersage nach sollte es am Vormittag noch schönen Süd-Ost-Segelwind geben, der uns bei Sonne gemütlich nach Helsinki schieben würde. So um diese Zeit sollte es dann in Tallinn anfangen zu regnen, wir hätten schon die halbe Strecke geschafft und würden nur die dunklen Wolken am Horizont sehen, und denken „gut, dass wir jetzt nach Helsinki fahren“. Bei einem Sonnenwetter so schön wie an den letzten beiden Tagen, an denen wir auf unseren Klapprändern Tallinns viele verschiedene Stadtviertel erkundet haben.
Angekommen waren wir Freitagabend am Ende eines schönen Segeltages, der in Lohusalu begann. Ein Zwischenhafen mit viel Natur drum herum. Hier kam wieder der Wunsch auf ein paar Tage länger zu bleiben und die Gegend zu erkunden. Aber wenn wir noch Helsinki und die Alands erreichen wollen und die Zeit für den Rückweg mit bedenken, können wir nicht groß ‘rumtrödeln.
In Tallinn gehen wir entsprechend verschiedener Empfehlungen in den Hafen Lennusadam und nicht in den Stadthafen wie ursprünglich geplant. Viele Empfehlungen kriegen wir von Uli aus unserem Segelverein, der mit ein paar Wochen Vorsprung die gleiche Tour macht. Witzig ist, dass das im vorletzten Jahr auch schon so war. Im Nachhinein ist das dann so, wie wenn man im gleichen Film war und sich beim Rausgehen erzählt was man gerade gesehen hat.
Aber zurück nach Tallinn. Estlands Hauptstadt ist, wie so viele Orte, die wir auf dieser Fahrt besucht haben, ein Platz mit einer wechselvollen und langen Geschichte. Schon beim ersten Rundgang nach unserer Ankunft fallen die vielen unterschiedlichen Spuren auf, die die Epochen hier hinterlassen haben. Der Hafen gehört zur ehemaligen Wasserflugzeugwerft aus den 1920er Jahren, die heute Museum ist. In den Hallen gibt es eine sehenswerte Ausstellung und auf dem weitläufigen Gelände können verschiedene Schiffe besichtigt werden. Als nächstes kommen wir an einem festungsartigen Bau vorbei, der als ehemaliges Gefängnis “Patarei“ ebenfalls eine Ausstellung beherbergt, die wir uns jedoch nicht ansehen. Tallinn ist etwas bergig. An den Hängen stehen alte gepflegte Holzhäuser und neue moderne Gebäude nebeneinander, wobei auffällt, dass Estlands Architekten den historischen Stil geschickt mit der skandinavischen Moderne verbinden. Ausrutscher gibt es natürlich auch hier. Vor der Altstadt kommen wir dann noch an einem Kulturzentrum vorbei, das in ein altes Heizkraftwerk eingezogen ist. Hier ist nichts edelsaniert. Alles ist mit geringstem Aufwand aber wirkungsvoll für die Ausstellung hergerichtet. Der Eintritt ist im Übrigen frei.
Über das Hafentor gelangen wir dann in das mittelalterliche Herz der Stadt und mitten in die Touristenströme, mit denen wir bisher noch keinen Kontakt hatten. Die zum Großteil verkehrsfreie Innestadt ist liebevoll restauriert. Auch wenn es wenig großflächige Schaufenster gibt, befindet sich in fast jedem Haus ein Souvenirshop, Boutique oder Gaststätte. Der Abend geht dann noch mit Schlendern durch die Stadt und einem Bier in einer Gasse zuende. Am Samstag wollen wir dann zum Markt. Annette sucht immer den lokalen Wochenmarkt, um einen Eindruck von Land und Leuten zu bekommen. Der empfohlene Balti-jaam-turk am Bahnhof stellt sich aber als eine Art Themenkaufhaus in schickem Design heraus. Nicht das, was wir suchen. Es gibt aber noch den Zentralmarkt, südöstlich der Altstadt. Auf dem Weg dorthin erleben wir den regen Autoverkehr, fahren durch eine Art Finanzviertel mit viel Glas, Beton und Stahl und kommen auf einem Marktplatz an, der eingerahmt von grauen Plattenbauten, eine so ganz andere Welt zeigt. Leider sind wir spät dran. Zuerst sehen wir nur einen Obst- und Gemüsestand, der auch schon am schließen ist. Die einzige Kundin erklärt uns, dass das die billigste Ecke des Marktes ist. Weiter nördlich gibt es noch mehr Stände. Auch dort bereits Aufbruchstimmung. Nachdem wir eingekauft und unsere Transportmöglichkeiten ausgeschöpft haben, strampeln wir wieder in Richtung Boot. Diesmal am Stadthafen vorbei, um zu sehen, was uns entgangen ist. Der Stadthafen liegt zwar etwas näher an der Altstadt, aber bekommt die ganzen Touriströme der anlegenden Fähren und Kreuzfahrtschiffe, einschließlich PKW- und LKW-Verkehr ab. Wir sind froh in Lennusadam angelegt zu haben. Wobei auch dort einiges im Umbruch zu sein scheint. Wie überall in Tallinn wird auch in diesem Hafen kräftig gebaut. Gleich nebenan befindet sich ein riesiges Areal um die alten Werfthallen mit dem Namen „Noblessneri“ und sieht auch so aus.
Nach zwei Tagen Tallinn wollen wir weiter. Viele verschiedene Eindrücke konnten wir sammeln. Wir hätten hier auch eine ganze Woche verbringen können, ohne uns zu langweilen. Aber es war ja dieser tolle Segelwind angesagt und bei Flaute mit Regen wollten wir nun auch wieder nicht die ganze Strecke motoren.
Es regnet im Übrigen immer noch. Der Motor dröhnt. Zweimal wurde ich von einer der riesigen Fähren überrascht, als ich, einpackt im Pullover und Ölzeug, den Gedanken hatte, mich mal wieder umzudrehen, um nachzugucken, ob nicht eine Fähre im Anmarsch ist. Und dann waren sie auch schon da. Groß, hoch grün und schnell.
Veröffentlicht am 23. Juli 2019
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