Mit der Verzögerung durch das Motorproblem hatte ich die Hoffnung, rechtzeitig zum Sängerfest oder wenigstens zum großen Abschlusskonzert in Riga zu sein, schon begraben. Jetzt waren wir doch am 7. Juli, einem Samstag angekommen und die große Abschlussnacht fand nicht an diesem Samstag, sonder erst am 8. Juli, also am Sonntag statt, sogar noch ein Tag Zeit, uns ein bisschen auszuruhen. Und nun stehen wir vor der Frau in der Touristeninformation und die lächelt auf die Frage nach Tickets nur müde: Seit Wochen ausverkauft, restlos ausverkauft, das Konzert und die Sing-Along-Night. Wir könnten einfach hinfahren, es gäbe immer Leute, die Karten aufkauften und dann zu Wucherpreisen anböten. Sie fände das furchtbar, aber so sei es eben. Dieses Sängerfest findet alle fünf Jahre statt und gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. In diesem Jahr fällt es mit den Feierlichkeiten zu 100 Jahre Unabhängigkeit Lettlands zusammen und ist deshalb vielleicht noch größer oder intensiver, das weiß ich nicht, aber jetzt haben wir es geschafft, trotz aller Widrigkeiten rechtzeitig hier zu sein und kommen nicht rein, was für eine Enttäuschung.
Bei unserem abendlichen Altstadtspaziergang sehe ich die Ankündigung eines deutschsprachigen Gottesdienstes einer deutschen Gemeinde, am Sonntagmorgen, in einem Saal am Kreuzgang des Doms. Interessant und vielleicht eine Gelegenheit, mit Leuten aus Riga zu sprechen und etwas über das Leben hier zu erfahren. Von der Gemeinde lerne ich dann beim Kaffeetrinken nach dem Gottesdienst zwar niemanden kennen, aber dafür zwei Menschen, die wegen des Sängerfestes nach Riga gekommen sind. Und die haben gestern bei der Generalprobe beschlossen, dass sie heute zum Abschlusskonzert gehen wollen, ihnen die anschließende Sing-Along-Night aber zuviel wird. Ich kann ihre Karten dafür haben. Yippeee!!!
Nach einer Fahrradtour durch das Jugendstil-Viertel am Nachmittag, einem ausgiebigen Abendessen und nachdem wir uns warm angezogen haben, machen wir uns gegen 22.30 Uhr auf zur Freilichtbühne Mezaparks – in einer Straßenbahn, die im Laufe der Fahrt so voll wird, dass Menschen laut gegen das Gequetscht-Werden protestieren. Aber die Stimmung bleibt gut.
Die Bahn hält offensichtlich vor der eigentlichen Haltestelle, denn zunächst will niemand aussteigen. Dann verlassen die ersten den Wagen und nach und nach folgen alle anderen. Als wir ‘rauskommen sehen wir, dass vor unserer Bahn ungefähr 20 genauso aussehende Bahnen auf den Schienen stehen, aus denen genauso viele Leute gekommen sind, die jetzt alle in Richtung Park wandern.
An dem breiten Weg, der im Park zur Freilichtbühne führt, wehen überall lettische Fahnen. Eine Menschenmenge strebt in Richtung Eingang, dabei ist das Abschlusskonzert schon im Gange, Chorgesang weht herüber, viele Tausend Stimmen sind zu hören, elektrisch verstärkt zwar, aber trotzdem ein ganz eigener Klang. Wir stellen uns in die Schlange am Eingang. Obwohl das Abschlusskonzert noch nicht zu Ende ist, werden wir schon hineingelassen. Peter sieht sich aus Langeweile das Ticket genauer an. Darauf steht: Man muss sich ausweisen können (er hat seinen Ausweis auf Rith gelassen) Es sind keine Fotoaufnahmen und demzufolge auch keine Fotoapparate erlaubt (haben wir eingepackt). Und es dürfen keine Flüssigkeiten mitgebracht werden (wir haben uns gegen den kalten Wind eine Thermoskanne mit Tee mitgebracht). Heißt das jetzt, dass Peter nicht ‘reingelassen wird? Dass er zurück fahren und seinen Ausweis holen muss? Wir sehen, dass die Taschen der Besucher kontrolliert werden, Vorbeischummeln wird nicht klappen. Aber wieder haben wir Glück. Der Tee wird beanstandet, muss ausgekippt werden, den Fotoapparat ertastet der Sicherheitsmann, lässt ihn aber durchgehen und einen Ausweis will er auch nicht sehen. Drinnen suchen wir uns einen Platz auf den Rängen, kommen in einer Gruppe hinter den ansteigenden Sitzreihen zu stehen. Sehen kann ich immer nur durch eine kleine Lücke, aber was ich sehe, kann ich kaum fassen. Die Bühnenhälfte der Arena ist von einem Teppich aus Menschen, alle in hellen Trachten, bedeckt. Alle singen. Irgendwo unten ist eine Bühne, das Zentrum des Geschehens. Von hier aus wird moderiert und werden die Stücke angesagt, die dann von einer Gruppe, die auf die Bühne kommt, vorgetragen werden. Auf einem Podest mit Treppe davor steht der Dirigent. Details werden auf Leinwände links und rechts der Bühnenhälfte übertragen. Wenn ich es recht verstehe, hat jeder Chor, der auf die Bühne kommt ein Stück, an dem sich aber auch die große Menge beteiligt. Es gibt auch Solopartien und wohl auch Tänze, aber die finden so weit unten statt, dass ich sie nicht sehen kann. Überwältigend diese schiere Menge der Akteure. Überwältigend aber wohl auch die Lieder. Rund um uns wird mitgesungen und Männern, die neben mir stehen, laufen die Tränen übers Gesicht, manche schniefen laut.
Die Sing-Along-Night ist dieser Intensität gegenüber ein bisschen enttäuschend. Ich hatte mir vorgestellt, dass es um das gemeinsame Singen gehen und es zwar eine Anleitung oder ein Vor-Singen von der Bühne aus geben würde, aber die Verstärkung so weit heruntergefahren würde, dass sich alle gegenseitig würden hören können. Stattdessen ist es so, als ginge das Konzert weiter, die Protagonisten des Abschlusskonzerts treten noch einmal auf, nur dass jetzt über der Bühnenseite der Text eingeblendet wird und wenn man will, kann man mitsingen. Es entsteht aber kein gemeinsames Singen. Es ist eher wie die Party nach der großen Veranstaltung. Leute treffen sich, reden miteinander, Menschen in Trachten und mit Blumenkränzen (die meisten Frauen) oder Kränzen aus Eichenlaub (manche Männer) mischen sich unters Publikum. Eine besondere Fröhlichkeit entsteht dann doch noch, als Tänze gespielt werden, die offensichtlich von einem Großteil der Anwesenden beherrscht werden, denn überall, vor der Bühne und auf den Gängen zwischen den Bankreihen wird auf einmal getanzt. Das schauen wir uns noch an, bevor wir gegen halb vier Uhr morgens den Heimweg antreten. Die Straßenbahnen transportieren die ganze Nacht über Menschen, inzwischen hauptsächlich von Mezaparks zurück in die Stadt. Wieder sind sie gut gefüllt, aber die Fahrgäste sind schweigsamer als auf der Hinfahrt und die Blumenkränze der Frauen lassen die Blüten hängen.
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