Es ist Montagabend in Kristianopel, am südlichen Ende des Kalmarsunds. Die letzte Woche dieser so wunderbar langen Segelreise ist angebrochen. Im Hafen liegen Yachten aus allen möglichen Ländern dicht bei dicht. Alle müssen oder wollen nach Hause und warten auf günstigen Wind. Zur Zeit weht es noch heftig aus Süd, also direkt von vorn. In die Richtung zu segeln, aus der der Wind kommt, ist bei moderatem Wind langwierig und mühsam und bei viel Wind unmöglich. Bis morgen soll der Wind auf West drehen, später aber wieder von Süden kommen. Das passt gut zu unserm Plan, noch ein oder zwei Tage in den Schären der Hanö-Bucht zu verbringen, bevor wir über Bornholm und Rügen zurück nach Greifswald segeln.
Dienstag früh um 6 Uhr. Der Hafen summt vor Geschäftigkeit. Der Wind kommt aus West, noch für ein paar Stunden, das muss ausgenutzt werden. Auch wir sind auf den Beinen. Noch einmal die aktuellen Prognosen der Wetterkanäle – Schwedisches Meteorologisches Institut, Norwegisches Meteorologisches Institut, Dänisches Meteorologisches Institut, windfinder, windy.com und wetteronline – im Internet durchsehen. Ups, das sieht garnicht mehr so aus, als wollte es zu unseren Plänen passen: Heute und morgen frischer Wind aus Süd, bis Südost, morgen Abend Gewitter mit starken Böen, am Donnerstag erst Flaute und dann zunehmender Wind aus West, der sich bis Freitag zu einer «gale», das ist ein kleiner Sturm, entwickelt, garniert von noch mehr Gewittern. Über die Seekarte gebeugt, jonglieren wir alle Möglichkeiten durch und entscheiden am Ende, schon heute in Richtung Bornholm aufzubrechen und am Besten über Nacht nach Rügen durchzusegeln, um nicht, wenn das schlechte Wetter mit dem Westwind schneller ist, als angekündigt, auf Bornholm festzuhängen und um vor dem Eintreffen der Gewitter in Sassnitz oder Lohme zu sein. Ade, ihr südschwedischen Schären, Ade Utklippan, das ich gerne noch einmal besucht hätte, um die vielen Seehunde zu sehen, die ich im letzten Jahr nur heulen gehört habe, ade Supermarkt, in dem ich mich noch mit einem Vorrat an Blaubeer- und Brombeergrütze versorgen wollte. Das Wetter bestimmt die Regeln, also Leinen los und zusehen, dass wir möglichst weit kommen, bevor der Wind wieder dreht.
Zunächst weht es aber nur schwach. Um nicht gleich zu Anfang der Strecke wertvolle Zeit zu vertrödeln, läuft der Motor mit.
Als wir aus dem Kalmarsund heraus sind, können wir auch Witowo-Radio wieder klar empfangen. Die Wetterprognosen, die diese polnische Funkstation alle vier Stunden auf den Kanälen 24, 25 und 26 bekannt gibt, haben uns mittlerweile auf mehreren Reisen begleitet. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie sehr zutreffend sind (was man von den Vorhersagen des Deutschen Wetterdienstes nicht unbedingt sagen kann). Jetzt kündigt Witowo-Radio an, dass der Wind in den nächsten 12 Stunden auf 6 Windstärken (Beaufort) zunehmen soll. Noch segeln wir unter Großsegel und Genua (großes Vorsegel für leichten Wind) dahin, den Motor brauchen wir nicht mehr, um die Geschwindigkeit zu halten und die Welle ist mäßig. Der Wind hat über Süd auf Südost gedreht und so können wir auf die Nordspitze von Bornholm zuhalten. Im Deep Water Way, auf halber Strecke zwischen Schweden und Bornholm ist zwar eine ganze Menge Verkehr, wir müssen aber nur selten den Kurs ändern, um einem der Frachtschiffe auszuweichen. Dazu scheint die Sonne und es wäre alles bestens, wenn nicht Witowo-Radio auf seinen 6 Windstärken bestehen würde, anstatt sie, wie ich bei jeder Ankündigung der Wettervorhersage heimlich hoffe, nach unten zu korrigieren. Kurz vor Bornholm nimmt der Wind langsam zu. Wir wechseln die Genua gegen die neue Fock (kleineres Vorsegel), die ohne Baum gefahren wird und gerefft (verkleinert) werden kann. Schon um kurz vor 21 Uhr verschwindet die Sonne hinter dem Horizont und nimmt dabei innerhalb einer Stunde alles Licht mit, anstatt, wie auf unseren Nachtfahrten im Juni und Juli, eine komfortable Resthelligkeit am nördlichen Horizont zu hinterlassen. Bis wir die Nordspitze von Bornholm erreicht haben, weht es mit 5 Windstärken und es ist richtig finster. Unmöglich ohne Hilfsmittel abzuschätzen, wie weit wir von der Küste entfernt sind. Unmöglich auch zu sehen, wie weit die Schiffe in der Kadettrinne (Fahrwasser für die Berufsschifffahrt, das zwischen Rügen, Bornholm und Südschweden verläuft), deren Lichter sich, wie auf eine Perlenschnur gezogen aneinanderreihen, von uns weg sind. Aber das GPS zeigt, wo es langgeht und dank der Landabdeckung nach Südosten, sind die Wellen nicht besonders hoch. Mit dem Großsegel im 2. Reff kommen wir gut voran. Bis wir Rönne erreicht haben ist es 2 Uhr nachts. Meine Angst davor, dass eine der Schnellfähren, die mit 35-40 Knoten (ca 70 km/h) zwischen Sassnitz und Rönne verkehren, aus dem Hafen herauskommt, während ich mit meinen 5-6 Knoten (ca. 10 km/h) an der Hafeneinfahrt vorbei schleiche, ist unbegründet. Um diese Zeit schläft hier (fast) alles.
Hinter Rönne macht die Küste allerdings einen Knick nach Südosten und die Landabdeckung ist weg. Der Wind wird stärker, die Wellen höher und immer mal wieder bricht sich eine an Riths Rumpf, spritzt hoch und ergießt sich über das Deck. Das erste Mal seit vielen Wochen sitze ich wieder in Ölzeug und mit Mütze auf dem Kopf an der Pinne. Auch wenn der Wind in den Wanten heult und manche Böen heftig sind, fühlt sich das alles beherrschbar an und auf jeden Fall kommen wir mit 6 Knoten Geschwindigkeit für unsere Verhältnisse gut voran. Den riesigen Windpark, der gerade zwischen Bornholm und Rügen gebaut wird und der uns genau im Weg liegt, können wir zwar nicht, wie geplant, an Steuerbord lassen, können unsern Kurs aber ganz gut halten. Und so wäre wieder einmal alles gut, wenn nicht am frühen Morgen, kurz vor dem Tromper Wiek, der nördlichen Bucht auf Rügen, deren Häfen Lohme und Glowe gut gegen die Wind- und Wellenrichtung geschützt liegen, eines der erst für den Abend angekündigten Gewitter nichts besseres zu tun hätte, als jetzt schon aufzuziehen. Über Rügen blitzt es und Regen strömt aus einer bösartig aussehenden Wolke. Was können wir tun? Abwarten, bis sie weitergezogen ist? Aber wo zieht sie hin? Da, weiter im Norden wird es heller. Wir wenden und fahren erstmal wieder ein Stück in Richtung Windpark. Jetzt sieht es so aus, als wollte die Wolke da auch hin. Also wenden wir zurück. Die Wellen haben eine durchschnittliche Höhe von ungefähr zwei Metern erreicht. Böen erfassen uns, die einen kreischenden Unterton haben und die Wellen noch ein Stück höher peitschen. Dann setzt ein kurzer, heftiger Regen ein, der Wind ist auf einmal nur noch eine frische Brise und es sieht so aus, als sei das Schlimmste überstanden. Da dies Peters Wache ist, bin ich, als der Regen einsetzte, nach unten in den Salon gegangen, getreu dem Motto, «es reicht, wenn einer nass wird». Die Gewitterwolke zieht ‘raus auf See, aber da, wo es eben noch «heller» war, steht auf einmal eine zweite, genauso gemein blitzende Wolke und deren Böen erwischen uns so unvermittelt, dass Rith kaum noch zu halten ist. «Die Segel müssen runter!» brüllt Peter. Ein schrilles Pfeifen erfüllt die Luft, Peter duckt sich gegen den Wind, Gischt fliegt ihm um die Ohren. Zum Glück habe ich Ölzeug und Rettungsweste anbehalten und bin in einem Augenblick an der Pinne. Peter leint sich an und klettert aus der Plicht. Obwohl der Motor läuft, beansprucht es meine ganze Aufmerksamkeit, Rith mit dem Bug im Wind zu halten. Peter müht sich auf dem rollenden Deck, bekommt die Segel aber herunter. Dass er sich, als er einmal mit dem Fuß abgerutscht und mit einem Bein außenbords geraten ist, das Knie verletzt hat, habe ich garnicht mitbekommen und auch er selbst bemerkt es erst, als der Tanz vorbei ist.
Nachdem es noch einen kurzen Schauer auf uns geworfen hat, ist auch dieses Gewitter weitergezogen. Die heftigen Böen sind vorbei, aber der Wind weht immer noch mit 6 Windstärken. Ohne Segel bleibt uns nur, gegen die Welle anzufahren oder vor ihr abzulaufen, wollen wir nicht querschlagen. Gut 3 Meter hoch sind die Wellen mittlerweile und viele von ihnen brechen. Zu viel, um dagegen anzukommen. Es geht hoch und runter, aber nicht vorwärts. Vor uns liegt die Bucht, deren südliche Seite Schutz verspricht, aber wir kommen ihr nicht näher, was immer wir auch versuchen. Trotz des Knies, das zu schmerzen begonnen hat und trotz der wilden Bewegungen, mit denen Rith in den Wellen tanzt, gehen wir nochmal in den Wind und Peter zieht die Fock wieder hoch. Das gelingt und aufatmend stellen wir fest, dass wir so mit halbem Wind in die Bucht hineinsegeln können. Wie erwartet, ist das Wasser hier wesentlich ruhiger. Als wir den Hafen von Glowe erreichen, scheint die Sonne. Es ist allerdings sehr heiß und schwül. Anlegen gelingt nach zwei Versuchen und mit Hilfe eines freundlichen Mannes, der die Bugleine annimmt. Peter kann vor Schmerzen im Knie kaum laufen. Leinen und Segel zu bedienen ist am nächsten Tag auf dem Weg nach Greifswald allein meine Aufgabe. Bei erst flauem und später schönem Segelwind erreichen wir Greifswald am frühen Abend und liegen sicher festgemacht, als die «gale» einsetzt.
Der Orthopäde, den Peter am Freitag aufsucht, stellt fest, dass das Knie gezerrt, aber nichts gebrochen oder gerissen ist. So ist auch das noch einmal glimpflich abgegangen.